Wir sind für Sie da!

Wie aus einer persönlichen Begegnung eine Projektidee entstand.

Wolfgang Sandtner

Der Text als DGS-Video:


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Frau W. war auf unserer Palliativstation an Krebs verstorben. Einige Monate nach dem Tod kam ihre Tochter auf die Abteilung und wollte mit mir sprechen. Dass Angehörige nach so langer Zeit auf die Palliativstation kommen, geschieht eher selten. Manchmal gibt es noch offene Fragen zu klären oder belastende Themen zu bearbeiten, manchmal wird Kritik geübt, manchmal auch Lob ausgesprochen. Manchmal geht es auch nur darum, noch einmal an den Ort zu gehen, an dem der geliebte Mensch zuletzt gelebt hat. Ich bin auf jeden Fall immer gespannt, was bei der Begegnung auf mich als Palliativmediziner zukommt. Die Rückmeldungen – gerade dann, wenn das Schockmoment des Todes abgeklungen ist – sind meist sehr fruchtbar und helfen uns, die künftige Versorgung von Patient*inn*en zu verbessern.

Frau W.  Ich kann mich noch sehr gut an sie erinnern. Ihre Tochter hatte einige Tage vor der Aufnahme bei uns angerufen, um sie anzumelden und uns einige Informationen zu geben. Frau W. war seit ihrer Kindheit gehörlos und fast 60 Jahre alt. Sie hatte einen gehörlosen Mann, der mittlerweile noch erblindet und daher sehr auf Hilfe angewiesen war. Das Ehepaar hatte zwei Töchter, die beide hörend waren. Hörende Kinder nicht-hörender Erwachsener werden als CODAs bezeichnet: Children Of Deaf Adults. Beide Mädchen waren von Geburt an daran gewöhnt, sich über Gebärden zu verständigen. Als hörende Menschen wurden die Kinder sehr früh wichtiges Bindeglied zwischen den Gehörlosen und den Hörenden. Es mag zwar ein natürlicher Prozess sein, aber für die Kinder stellt dies eine große Herausforderung und enorme Leistung dar.

Über die Tochter erfuhr ich ein bisschen mehr über Frau W. Sie lebte sehr zurückgezogen mit ihrem Mann und hasste, wie die meisten Menschen auch, Krankenhäuser.

Wenn Blicke töten könnten, ich wäre sofort tot umgefallen. So war unsere erste Begegnung. Frau W. sah mich beim ersten Zusammentreffen im Bett liegend erst düster und verbissen an, wandte dann den Blick abrupt von mir ab, blickte ihre Tochter an und signalisierte ihr: „Nein! Ich will nicht! Ich … will … nicht! Ich bleibe nicht hier!“ So viel verstand ich. Zwischen Frau W. und ihrer Tochter entwickelte sich ein Gebärdengefecht. DGS (Deutsche Gebärden-Sprache) kann ich nicht. Daher stand ich zunächst betroffen und staunend auf die beiden Frauen blickend da. Das, was ich mitbekam, war ein Wirbelwind aus Handbewegungen und eindeutig lesbaren Gesichtsausdrücken – dem von Frau W. zwischen Wut, Ablehnung und Frustration und dem der Tochter zwischen Verzweiflung, Ratlosigkeit und ebenfalls Frustration. Ich signalisierte den Frauen, dass ich das Zimmer verlassen würde, um sie ihren Disput ungestört unter sich austragen zu lassen – und war ebenfalls frustriert…

Nach einer Weile kam die Tochter erschöpft aus dem Zimmer. „Ich kann nicht mehr! Daheim geht es nicht mehr, vor allem weil Papa auch viel Hilfe braucht und Mama jetzt so viel Unterstützung, die ich nicht geben kann. Ich weiß wirklich nicht, ob das mit der Palliativstation die richtige Entscheidung war. Ich hab‘ ein total schlechtes Gewissen, aber daheim geht es wirklich nicht mehr!“ „Geben Sie sich und Ihrer Mutter ein bisschen Zeit.“, antwortete ich. „Es gibt wenig Menschen, die gerne auf die Palliativstation gehen. Die meisten fürchten sich, denn sie denken bei Palliativstation immer an Sterben und Tod. Die einen sehen es positiv, die anderen negativ. Ich hatte eine Patientin, die sich sehr wohl fühlte. Sie sagte: „Ihre Abteilung ist die Station für Schöner-sterben.“ und meinte das im guten Sinne. Das andere Extrem war ein Patient, der schimpfte: „So, jetzt bin ich also im Sterbezimmer!“ Er fühlte sich abgeschoben und von seinem behandelnden Arzt im Stich gelassen. Aber so ist es nicht. Auf einer Palliativstation ist das medizinische Team folgendermaßen eingestellt: Wenn eine Stabilisierung erreicht werden kann, dann besprechen wir, wie es therapeutische weitergehen soll und kann. Viele Leute kommen, weil sie zum Beispiel unter einer Chemotherapie körperliche Beschwerden entwickeln. Das gelingt meist recht gut. Die Probleme, die im Zusammenhang der Behandlung auftreten, werden behandelt. Und wenn es wieder besser geht, planen wir gemeinsam mit den Betroffenen und den Behandelnden den nächsten Therapieschritt. – Manchmal gelingt die Stabilisierung nicht und Menschen treten in den letzten Abschnitt ihres Lebens. Dann erhalten sie durch uns genau die Versorgung, die sie brauchen, um gut aus der Welt gehen zu können – möglichst mit wenig Schmerzen oder belastenden Symptomen. – Was wir für Ihre Mutter, für Sie und Ihre Familie tun können, machen wir! Wir möchten, dass Sie sich alle gut bei uns aufgehoben fühlen. Schön, dass wir bereits im Vorfeld miteinander telefoniert haben. So konnte ich mich ein bisschen vorbereiten. Ich denke, Ihre Mama und ich werden schon miteinander auskommen.“

Wir besprachen noch einige Dinge, die allen Patientinnen und Patienten wichtig sind, wie Essens- und Getränke-Wünsche, Interessen, Lebens-, Schlaf- und Liege-Gewohnheiten.

Die Tochter hatte sämtliche Krankenunterlagen, die Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht mitgebracht, so dass ich mich rasch in die Erkrankung ihrer Mutter einarbeiten konnte. Leider war die Prognose bei dem weit fortgeschrittenen Krebsleiden gar nicht gut. Die Krankheit hatte dazu geführt, dass Frau W. ständig Bauchschmerzen hatte, kaum mehr Stuhl absetzen konnte sowie ständig unter Übelkeit und Erbrechen litt. Sie konnte kaum mehr essen und trinken, ohne sich unmittelbar danach heftigst zu übergeben. Die Folge davon war ein riesiger Gewichts- und Kraftverlust, was schließlich dazu geführt hatte, dass Frau W. die meiste Zeit im Bett verbringen musste. Der Krankheitsverlauf entwickelte sich so rapide, dass die Seele von Frau W. dem körperlichen Verfall nicht rasch genug „hinterherlaufen“ konnte. So, und jetzt war sie noch dazu auf der gruseligen Palliativstation, auf der sie gar nicht sein wollte und auf der nicht einmal richtig mit ihr kommuniziert werden konnte. Kein Wunder also, dass Frau W. so richtig frustriert war!

Ich teilte der Tochter mit, ich würde versuchen, diese so weit wie möglich zu entlasten. Das bedeutete, ich müsse einen guten Weg finden, mit Frau W. auch alleine zu sprechen. Ich bat die Tochter noch um Beistand für das Erstgespräch, in dem die wichtigsten Themen geklärt werden. Hierbei handelt es sich nicht nur um Krankheitsfragen, sondern auch um Dinge, die das persönliche Leben betreffen, das seelische Befinden, die spirituelle Einstellung und die sozialen Umstände. All diese Informationen fügen sich zu einem „runderen Bild“ für uns Behandelnde, womit wir den oder die Erkrankte*n umfassender betreuen können. Denn darum geht es: Palliativmedizin möchte Menschen, die an einer schweren, nicht mehr heilbaren Erkrankung leiden und die mit einer verkürzten Lebenszeit einhergeht, ganzheitlich beistehen, sie schützend „ummanteln“ – genau das, was man mit einem „Pallium“, einem großen Tuch, machen kann – ummanteln. Und das wollen wir für die Menschen, die den Erkrankten wichtig sind, ebenso tun. Daher brauchen wir zum einen so viele Informationen, zum anderen ein Team erfahrener Sachverständiger aus vielen unterschiedlichen Bereichen wie Sozialdienst, Entlassungsmanagement, Krankengymnastik, Atem-, Kunst-, Musik- und Klangschalentherapie, Psychoonkologie / -therapie und Seelsorge.

Die Tochter und ich gingen zu Frau W. Ich wusste, dass sie gerne alkoholfreies Bier trank. Ich hatte mir einige Unterlagen vorbereitet, um mit ihr ins Gespräch kommen zu können: Stift und Schreibbrett, aber auch einen Ordner, den ich angelegt und untergliedert hatte in unterschiedliche Lebensbereiche wie zum Beispiel Körperpflege, Essen und Trinken, Hobbies usw. Die Bezeichnung für den Ordner lautete „Ich-Buch“. Die einzelnen Bereiche waren ausgestattet mit kleinen Bildern, so dass Frau W. nur blättern, hindeuten musste und wir sofort verstehen würden, welchen Wunsch sie habe. Dieses „Ich-Buch“ sollte ganz individuell umgestaltet werden, so dass während des stationären Aufenthaltes eine ganz persönliche Mappe für Wünsche und Bedürfnisse für Frau W entstehen würde.  Daneben hatte ich eine laminierte Liste erstellt. Auf beiden Seiten standen Fragen und Anweisungen – auf der Vorderseite für die Gehörlosen, auf der Rückseite für das versorgende Team. So konnte rasch durch Zeigen zum Beispiel folgender Dialog geführt werden: „Hilfe! – Ich habe Schmerzen! – Bitte bringen Sie mir eine Schmerztablette!“ und „Ich bin gleich wieder da. – Ich hole das Medikament.“ Andere, umfangreichere Wünsche oder besondere Fragen konnten schriftlich erfolgen. – All das würde zwar keine echte und vor allem keine flüssige Kommunikation darstellen, doch zumindest eine effektive Form von Verständigung ermöglichen. Für wichtigere Themen stellte sich uns die Tochter zur Verfügung. Sie wollte ich, wie schon gesagt, aber schonen, weil sie wirklich an der Grenze ihrer persönlichen Belastung angekommen schien. Außerdem hatten wir schon Kontakt mit einer Gebärdensprach-Dolmetscherin aufgenommen. Um existenzielle oder schwierigere Gespräche führen zu können – schließlich ging es wirklich um Leben und Tod -, bedurfte es allerdings eines guten „timing“, da die Dolmetscherin sehr beschäftigt war. Doch immerhin: intensivere Gespräche wären mit ihrer Hilfe möglich gewesen.

Vorbereitet mit Bier und Kommunikationsmaterial betraten wir das Zimmer. Frau W. staunte nicht schlecht, als ihr die Tochter all die Gegenstände erklärte. Am meisten jedoch freute sich Frau W. über das kalte Bier. – Ich signalisierte Frau W., dass ich mir Zeit nehmen würde, ihre Beschwerden und Wünsche zu erfassen und wie wichtig es mir sei, dass sie sich wohl bei uns fühle. Ich bat sie allerdings auch, Geduld mit unserer doch ziemlich laienhaften Kommunikationsstruktur zu haben. Im Gegensatz zu anfangs, wirkte Frau W. entspannter und extrem interessiert an unseren „Sachen“. Das „Ich-Buch“ nahm sie sogar lächelnd entgegen und blätterte sofort darin. Nach ein paar Minuten signalisierte sie: „Daumen hoch“.

Es gelang dem ganzen Team, das genauso wenig Erfahrung hatte wie ich im Umgang mit einem gehörlosen Menschen, ein gutes Vertrauensverhältnis zu Frau W. aufzubauen. Ebenso ging es Frau W. Die Tochter und die restlichen Familienmitglieder nahmen dies erleichtert wahr. Rasch wich die anfängliche Anspannung. Leider schritt die Erkrankung von Frau W. sehr rasch fort. Wir konnten Schmerzen und Symptome zwar lindern, den Tod selbst konnten wir bedauerlicherweise nicht aufhalten. Frau W. verstarb bereits nach wenigen Tagen friedlich und ohne wahrnehmbare Zeichen von Leiden oder Stress an den Folgen ihres Krebsleidens im Beisein ihrer Lieben. Als ich das „Ich-Buch“ aus dem Zimmer holen wollte, das auch für andere Patientinnen und Patienten gedacht gewesen war, da man es neu hätte umgestalten können, war es weg. Vielleicht hatten es die Angehörigen zur Erinnerung mitgenommen.

Nun, jetzt stand die Tochter vor mir. Sie sagte, sie wolle mich nicht lange stören, doch es sei ihr ein großes Anliegen, mir mitzuteilen, dass sich ihre Mutter sehr wohl auf der Palliativstation gefühlt habe. Eines der letzten Dinge, die ihre Mutter ihr mitteilte, war: „Das ist das erste Mal in einem Krankenhaus, dass ich mich als vollwertiger, geachteter Mensch gefühlt habe.“ Das war eines der schönsten Komplimente für unsere Arbeit, das ich je bekommen habe!

Die Erfahrung mit Frau W. veranlasste mich letztlich dazu, mir Gedanken zu machen, wie gehörlose Menschen ihren Bedürfnissen entsprechend, gut auf einer Palliativstation versorgt werden können. Aus diesem Wunsch heraus und dank der Begegnung mit einer tollen, engagierten Frau, die an einer Hochschule Gebärdensprachdolmetscher ausbildet, Frau Prof. Uta Benner, entstand ein gemeinsames Projekt, das gerade am Wachsen ist und auf das ich große Hoffnung setze – das „Deaf Pal Project“ für Kommunikation mit Gehörlosen auf einer Palliativstation (nachzusehen unter: Deafpal.org).

Gute Palliativmedizin ist wichtig und bei weitem nicht so schrecklich, wie es sich Erkrankte und ihre Angehörigen, aber auch Ärzte und Ärztinnen oft vorstellen. Palliativmedizin klammert den Tod nicht aus. Im Gegenteil. Sie ist voller Leben und vor allem wertvollen Begegnungen.